Christoph Reuter und Marcel Mettelsiefen – Kunduz, 4. September 2009

Ausstellungsdauer: 23.04.2010 – 13.06.2010


Am Anfang war die Zahl. Genau genommen war es das Gegenteil jener Genauigkeit, die man mit Zahlen assoziiert: Zwischen „17 und 142 Menschen“ seien in der Nacht zum 4. September 2009 ums Leben gekommen bei dem Luftangriff auf vermeintliche Aufständische im Bezirk Chardara südlich von Kunduz. So der Nato-Untersuchungsbericht Monate später.

Zum ersten Mal seit 1945 hatte ein deutscher Offizier das Bombardement einer großen Menschenmenge angeordnet. Wobei er gar nicht genau wissen konnte, wen und wie viele Menschen er aus der Luft töten ließ. Er tat es in der Annahme, all die Punkte auf seinem Bildschirm seien Taliban.

Dem war jedoch nicht so.

Im Rahmen der folgenden Aufklärungsbemühungen entstand ein 500seitiger Untersuchungsbericht der Nato-Mission in Afghanistan. Er dokumentiert minutiös den Funkverkehr zwischen den amerikanischen Piloten und den Deutschen am Boden, zeichnet akribisch das Geschehen seitens der Militärs nach.

Doch eines hat weder die Verfasser des Berichtes, noch andere Stellen so recht interessiert: Wen ließ Deutschland da eigentlich umbringen? Wie viele Menschen starben, als die Bomben bei den Tanklastzügen einschlugen, die von Taliban entführt und von der Dorfbevölkerung geplündert worden waren? 17 bis 142.

Diese Gleichgültigkeit war für uns der Grund für dieses Ermittlungsarbeit. Über Monate haben wir zusammengetragen, was genau in jener Nacht an der Furt geschah. Wer starb dort? Was trieb jeden Einzelnen zu den Tankwagen, die sich festgefahren hatten? Was fanden seine Angehörigen am nächsten Morgen von ihm?

Es stellte ein kompliziertes Unterfangen dar, in einem Bürgerkriegsgebiet ohne funktionierendes Meldewesen zu eruieren, wer an einem bestimmten Tag ums Leben gekommen ist, ja wer von den mutmaßlichen Opfern überhaupt je existiert hat. In zwei Dutzend mehrstündigen Interviews mit den verschiedenen Gruppen aus den betroffenen Dörfern haben wir versucht, alle Details zusammenzutragen, haben Ausweise, Fotos, Wahlregistrierungen aufgenommen und immer wieder die Menschen aus einem Dorf über die Toten in den anderen Dörfern befragt, um eventuellen Versuchen der Manipulation vorzubeugen.

Die Frage, wer starb, ließ sich klären: 91 Menschen, männlich, vom Kind bis zum Greis. Fast alle waren zur Furt gekommen, um Treibstoff in ihre mitgebrachten Behältnisse abzufüllen und nach Hause zu tragen.

Unmöglich zu klären hingegen bleibt, wer von den Toten Talib oder Zivilist war. Dies schon deshalb, weil die Unterscheidbarkeit eine Fiktion ist. Chardara wird von den Taliban kontrolliert, es gibt Sympathisanten, Opportunisten, Menschen, die aus Angst zu Mitläufern wurden, zig Wesen aus der Zwischenwelt der Grautöne, die in der deutschen Debatte kaum jemand wahrnimmt. Die Polizei und der Geheimdienst in Kunduz behaupten, mindestens die Hälfte der Toten seien Aufständische gewesen. Der Gouverneur hält sowieso alle in Chardara für Taliban und ist der Meinung, der Bezirk sollte viel häufiger bombardiert werden. Die Angehörigen wiederum beteuern, nur Zivilisten seien durch die Bomben gestorben.

Uns geht es nicht darum, alle Opfer post mortem zu guten Menschen zu erklären. Aber Menschen, das waren sie. Ihnen gebührt der Respekt, als Individuen wahrgenommen zu werden.

Zwar wird die Debatte um das Bombardement in Deutschland Anfang 2010 mit Verve geführt, doch es ist ein innenpolitischer Schlagabtausch geworden. Auch bei der Frage ziviler Opfer geht es nur darum, wann die Bundesregierung offiziell in Kenntnis gesetzt wurde über die zivilen Opfer – völlig unabhängig von der Frage, wann sie es hätte wissen können.

Afghanistan wird behandelt, als sei es lediglich die Benutzeroberfläche der auswärtigen Akteure. Keine Regierung hat in den vergangenen Jahren die Frage offen diskutiert: Was soll, mehr noch, was kann mit diesem Einsatz wirklich erreicht werden?

Diese Ignoranz, gar nicht so genau wissen zu wollen, in was Deutschland sich derart massiv einmischt, ist mitverantwortlich für die dramatische Lage der deutschen Einsatzkräfte. Das Bombardement vom 4. September war kein Zufall, sondern die Konsequenz aus vielen Versäumnissen: ein Oberst, der erheblich unter Druck stand, der wachsenden Bedrohung durch die Taliban etwas entgegenzusetzen, der jedoch nicht einmal die Mittel hatte, um die Umstände der Entführung zweier Tanklastwagen wenige Kilometer von seinem Lager entfernt aufklären zu können. Eine Truppe, die nie für einen Krieg ausgerüstet wurde, den sie ja auch nie führen sollte und in jener Nacht umso brutaler geführt hat. Eine Bundesregierung, die den Afghanistan-Einsatz als etwas behandelt, was er schon seit langem nicht mehr ist.

Sich über die Lage in Afghanistan in Selbsttäuschung einzuigeln mag für das politische Berlin bequem gewesen sein. Für die Bundeswehrsoldaten in Kunduz ist es die Hölle. Und für die Afghanen, die sich in jener Nacht am Fluss aufhielten, war es der Tod.

Doch die Geschichte endet nicht: Die Bundeswehr-Patrouille, die am Karfreitag, dem 2. April, in einen Hinterhalt der Taliban geriet, war nahe der Ortschaf Issa Khel in Chardara unterwegs – jenem Dorf, aus dem zehn Opfer des Bombardements stammen. Deutsche waren gekommen, Sprengsätze zu entschärfen, die im Zweifelsfall auch die Dorfbewohner getroffen hätten. Doch es war eine Falle, die Taliban eröffneten das Feuer. Drei der Soldaten starben, acht wurden zum Teil schwer verwundet. Und am 15. April attackierten Taliban eine deutsch-belgische Patrouille südlich von Kunduz. Vier Soldaten wurden getötet, fünf verletzt.


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