Seltmann – Wäre man doch vor dem Menschen geboren

Ausstellungsdauer: 28.02.2010 – 11.04.2010


Die Frage zwingt sich einfach auf: Als was wäre Kerstin Seltmann auf die Welt gekommen, wäre sie tatsächlich „vor dem Menschen geboren“ worden. Als Kröte? „Vor dem Menschen geboren“, hätte sie immerhin nicht zu fürchten, platt gefahren zu werden. Oder als Insekt? Sie würde nie vertrocknet auf Fensterbänken herumliegen. Als Fisch? Dann könnte sie niemand zum Verzehr auf Tellern anrichten. Als Schwan? Ihr bliebe die Vogelgrippe erspart. Als was also?

Der frankophile Rumäne und Querdenker Emil M. Cioran, dem diese Ausstellung (auf ausdrücklichen Wunsch der Ausstellenden!) ihren Titel verdankt, hätte sich auf diese Zoologie bestimmt nicht eingelassen. Vielmehr hätte er ebenso schlicht wie bestechend geantwortet: als Kreatur. Cioran trieb nicht die Angst vor dem Tod, sondern die vor dem Leben um. Dieser Meister der Verneinung nahm nämlich das Scheitern wichtiger als das Sterben – genau darum aber war er mittendrin im Leben. Was das mit Kerstin Seltmanns Kunst zu tun hat? Nun, sie verweigert uns, was wir am dringendsten haben möchten: Gewissheiten.

Sie verweigert Gewissheiten wie Cioran sich immer weigerte, Systematiker zu werden. Er wollte sich die Wirklichkeit nicht zurechtlügen müssen, damit sie in ein System passt. Kerstin Seltmann artikuliert eine Grundskepsis gegenüber jeder Norm des Sehens. Vielleicht liegt das nahe bei einer, die Anfang der 80er Jahre nur ein paar Semester an der Dresdener Hochschule aushielt. Sollte sie dort tatsächlich etwas gelernt haben, dann dies: Nie damit aufzuhören, das eigene Schaffen und Können zu beargwöhnen.

Sorgen müssen wir uns deshalb aber nicht machen. Erstens bestätigt der Ausstellungstitel, dass sie zur Ironie fähig ist. Zweitens stapelt sie weiter Formen, Farben und Bedeutungen mit einer Besessenheit, dass uns um ihre Freude an der Wut nicht Bange zu sein braucht.

Verhüllen und Enthüllen, Bergen und Verbergen sind für sie ein (Mal-)Vorgang. Wieder und wieder übermalt sie, montiert sie ein oder neu, legt sie alte Schichten frei oder frische auf. Es ist ein „alchemistisches Hantieren“ mit Pigmenten, Tinkturen, Textilien, Öl, Sand (um von anderen Beimischungen besser nicht zu reden). Ihre Bilder mögen ganz gegenständlich motiviert sein, am Ende nehmen sie immer mit Ur-Bildern Fühlung auf: oft Angst, aber genauso Lust; Qual, aber genauso Erfüllung. Die Heftigkeit der Linien gemahnt manchmal an Francis Bacon (den sie schätzt), das pulsierende Kolorit an Chaim Soutine (den sie liebt), doch nie ist etwas anderes als Kerstin Seltmann zu sehen. So, wie sie die Dinge sieht. Oder anders formuliert: Ihre „Dorsche“ sehen eben nicht aus wie von Günter Grass gemalt.

Hier hängen Zeichnungen, die Epitaphien für Enten und Esel beziehungsweise die aus ihnen gekreuzten Mischgattungen sind. Leinwände zeigen Leichen von Ostsee-Schwänen oder den weiß gefrorenen Leib einer Kuh in schwarzgrüner „Winter“-Landschaft. Anderswo sind Hände zu erkennen oder Gesichter. Die Fauna würde gut in mittelalterliche Bestiarien passen, die Fragmente des Menschlichen durchaus in Totentänze.

Wenn Kerstin Seltmann ein Kerbtier porträtiert, dann gewiss nicht, weil es eine Menge davon in ihrem brandenburgischen Wahlheimatdorf Kemlitz gibt und sich das dort halt anbietet, sondern weil seine Form dem von ihr Empfundenen am ehesten entspricht, wenn sie Zorn, Depression, womöglich auch Hybris bändigen muss.

Doch hat sie die Form einmal gebändigt, ist der Rest – Farbe. Farbe, Farbe und nochmals Farbe. Auf die Frage, seit wann sie ihrer Farbleidenschaft fröne, erwiderte sie einmal knapp: „Seit ich mich über schlechte Farben geärgert habe.“ Wer begreifen will, wie sehr sie sich ärgern kann, schaue sich ihre rottönende „Basler Fastnacht“ an. – Apropos Fragen: Kerstin Seltmanns Antworten sind Fragen, ihre Fragen Antworten. Ihr Credo ist nicht der Goldene Schnitt. Was sie leistet, ist Knochenarbeit der Abstraktion: Der Tod der Kreatur wird bei ihr zur Metapher für das Leben. Zum umgekehrten Memento mori gewissermaßen. Also nicht: Gedenke, dass du sterben musst. Sondern: Gedenke dessen, was das Leben wert ist!

Das ist die Erschütterung, die alle „Seltmannkeiten“ auslösen. Dabei ist weniger wichtig, was deren Schöpferin „uns sagen will“. Denn letztlich ist auch in ihren Bildern nur anwesend, was wir Betrachter zu imaginieren vermögen. Und je nachdem, wozu wir dabei imstande sind, verwirren, stören, erleuchten, betören diese Bilder. Manchmal bleibt auch bloß Ratlosigkeit. Aber lieber ratlos als falsch beraten.

„Malen ist da sein“, sagt Kerstin Seltmann. Was Wunder, dass ihr Thema das Dasein ist. Drunter geht’s für eine wie sie nicht. Weshalb es gut ist, dass sie nicht „vor dem Menschen geboren“ worden ist.

Weitere Informationen: www.seltmann-art.de


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