Ausstellungsdauer: 10.04.2011 – 19.06.2011
Fotografien sind Zeitkonserven – auf eine ganz vertrackte Weise, denn sie geben nicht preis, welche Zeit sie speichern oder zeigen. Die Momentaufnahme einer tausendstel Sekunde bildet die gleiche Fläche, Perspektive und räumliche Situation ab wie eine Langzeitbelichtung von vierzehn Stunden. Genau darum geht es in Michael Ruetz’ Projekt „Die sichtbare Zeit“: Wie die Zeit Bilder formt, die selbst eine andere zeitliche Existenz haben.
Die Versuchsanordnung – mit dem Titel „Timescape 817.1-∞“ hinlänglich wissenschaftlich beschrieben – ist so einfach wie alle Epistemologie: Immer derselbe Standpunkt, (fast) immer dieselbe Optik, immer derselbe Schwarzweißfilm, immer derselbe Blick, und das über mehr als 25 Jahre. Heraus kommt ein klassisches Produkt dessen, was die Kunstwissenschaft unter dem Begriff der Künstlertheorie fasst: John Constables Wolkenklassifikation – wer liebt nicht die No.9? – oder Claude Monets Lichtstudien an der Kathedrale von Reims gehören dazu, aber auch John Lathams „Time-Base-Roller“ aus jüngerer Zeit. Hier geht es nicht vordringlich um metereologische Beobachtungen, um eine Kosmologie oder die physikalischen Grenzen der analogen Fotografie, sondern um eine Langzeitbeobachtung von Künstler und Werk mit einem durchaus großen Rest an formaler Qualität, der sich der – wissenschaftlich notwendigen – Erfassung durch Sprache entzieht.
Auch wenn die Bilder von Timescape 817 chronologisch nummeriert sind, ist ihre Anordnung in Ausstellungen, Büchern und auf Web-Sites vollkommen freibleibend. Jede neue Zusammenstellung macht Zeit auf eine andere Weise sichtbar, immer als Differenz zwischen zwei oder drei Bildern, die gleichzeitig und synchron zu erkennen sind; aber auch durch eine Differenzierung in Größe und Beleuchtung, sodass sich Wetter, Zeit, Licht und Raum zu jeweils neuen Bildern verdichten können. Eines der schönsten Gemälde des Fotografie-Erfinders Louis Jacques Mandé Daguerre trägt den Titel „Die Effekte von Nebel und Schnee“ – genau darum geht es in der ganzen Fotografie, und Michael Ruetz hat ihr mit seiner Serie eine der wesentlichen Definitionen zurückgegeben. (Rolf Sachsse)
Michael Ruetz zählt zu den renommiertesten Fotografen Deutschlands. Bekannt wurde er Ende der 60er Jahre durch seine Bilder der westdeutschen Studentenbewegung. In den 1960er und 1970er Jahren bereiste er im Auftrag des Stern die DDR, u.a. während der Weltfestspiele der Jugend 1973 und des 1. Mai 1974. Ebenso fotografierte Michael Ruetz die Akteure und Liquidatoren des Prager Frühlings. In weiteren Reportagen zeigte er Griechenland zur Zeit der Militärdiktatur, Chile nach dem Wahlsieg Salvador Allendes und Guinea-Bissau im Unabhängigkeitskrieg. Aus der Zeit um 1970 stammen Porträts von François Mitterrand, Helmut Kohl und anderen europäischen Politikern. Neuere Projekte setzen sich mit den Möglichkeiten der Visualisierung von Zeit bzw. Vergänglichkeit auseinander. Der zweite Blick, Timescape und Der unverwandte Blick dokumentieren den Wandel der „sichtbaren Umwelt“ im Verlauf der Zeit. Unter dem Titel Eye on Time widmet sich Michael Ruetz in größeren Zeitabständen demselben Objekt und Thema und hält so Veränderungen und Entwicklungen desselben Ortes über Jahre fest.
Weitere Informationen: www.michaelruetz.com/
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